Mumien, Analphabeten, Diebe.
Du hast's gut, du hast dein Leben noch vor dir.
Ye Olden Days
nnier | 17. Mai 2012 | Topic In echt
Es ist noch gar nicht so lange her, da saß ich bei einem im Büro, der mich intensiv anstarrte. Er erzählte was von "Visionen", die er habe, und dass er unbedingt wissen müsse, ob ich an die "glaube", bzw., da ich diese Visionen ja noch gar nicht kennen könne, sei die Frage eigentlich, ob ich an ihn glaube. Wieder dieser intensive Blick. Ich fühlte mich unwohl, rutschte hin und her, versuchte das Gespräch immer wieder auf eine inhaltliche Ebene zurückzuholen, über diese Idee und jenes Projekt zu sprechen, was mir aber nicht gelang, und sagte gegen Ende nur noch "hm" und "he he".

Es gab eine Kollegin, die hatte ihm verliebte Blicke zugeworfen, als er sich in der großen Runde vorstellte und selbst bespiegelte: Marathon, Extremsex (oder so etwas), ein "typisches Internetgewächs" sei er jedenfalls, und sie sagte mir: Mit ihm wird alles anders! Da hatte sie recht, sie arbeitete sich tot und wurde in emotionale Ausnahmezustände gebracht, von ihm und seinem Speichellecker zusammengeschrien, bis sie heulte, danach erzählte er mir, dass sie "die Beste" in dem ganzen Laden sei, dann entließ er seinen Speichellecker, der wurde abends völlig orientierungslos am Bahnhof gesehen, und als ich auf der Weihnachtsfeier mit ihr sprach, vertraute sie mir an, dass sie gerade gekündigt hatte. Ich bekam das Grinsen gar nicht mehr weg, auf dem Klo kumpelte er mich plötzlich an, ich sagte ja ja und he he.

Er hatte einen Adjutanten mitgebracht, der einen sog. Track Record aufzuweisen hatte, der kam wie ein Kriegsreporter in unser Großraumbüro, er trug Cowboystiefel und - ohne Scheiß! - eine Ray Ban hoch ins Haar geschoben. Irgendwie hängte er sich an mich, quetschte mich aus, fühlte sich schlau, stellte unverfängliche Fragen, zog mich vorgeblich ins Vertrauen, quatschte mich voll, erzählte mir von den Telefonaten mit seinem Meister, der ihn regelmäßig nachts anrief und aufgedreht über die Arbeit redete. Wie er wieder stundenlang zusamengeschissen worden sei, wie er wieder schlimm angeschrien worden sei, erzählte er mit seltsam stolzem Tonfall, und dass sie eigentlich ganz tolle Kumpel seien, ich sagte ja ja und mhm und las nebenbei die geheimen Dossiers, die er über die verschiedenen Teams verfasst und auf dem falschen Laufwerk abgelegt hatte. Zu meinem Team hieß es: Machen das, was übrigbleibt, und ich muss sagen, das war gar nicht so falsch ausgedrückt. Die kannten sich schon lange, die beiden, erzählte mir also der Adjutant, und dass der zwar machmal ganz schön krass sein könne, aber dann auch wieder unheimlich lieb, und wie sie in einer früheren Firma mal vor allen Kollegen um die Wette Liegestützen gemacht hätten, auf drei Fingern. Mehr habe ich nicht erfahren, der Adjutant wurde nämlich auch bald rausgeschmissen.

Ich hatte schon vorher komische Sachen gemacht, z.B. im Anzug mit irgendwelchen Anzugmenschen gesprochen, da schwitzte ich manchmal und musste mir das Lachen verbeißen, aber es verblieb ausreichend Restrealität. Diese verflüchtigte sich nun rapide, einmal wurde ich gewarnt, dass er sich "auf jedes Telefongespräch schalten kann", ein anderes Mal, dass er "alle Mails" mitlese, und manchmal, auf dem Klo, hörte ich Gesprächsfetzen, die irgendwoher kamen, ich ging dann mehrmals außenrum, aber da war nichts, und ich fragte mich, ob irgendwo im Lüftungsschacht ein Geheimagent sitzt und Gespräche abhört. Das gab mir zu denken, bald saß ich bei dem Internetgewächs im Büro, wurde psychopathisch angestarrt und nach meinem Glauben befragt. Dann kündigte ich.

Es waren nur ein paar Monate. Sie fühlten sich ewig an. Ich denke kaum noch dran.

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venice_wolf, Freitag, 18. Mai 2012, 01:59
Werter nnier, mit diesen Sekten sollten Sie eher vorsichtig sein, das faengt immer lustig/abenteurerlich/spannend an und dann auf einmal kommt man nur mit groesster innerlicher Kraft wieder heraus.

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nnier, Freitag, 18. Mai 2012, 14:36
Ach, so richtig lustig hatte das auch nicht angefangen. Aber die ersten Jahre würde ich unter normalem Arbeitselend verbuchen, wenn es einfach nicht richtig passt, zuerst waren's hemdsärmelige Quadratschädel und später smarte Businesstypen mit ihrem irren Beratersprech, das ist ja auch Geschmackssache. Richtig übel fand ich dann den Einbruch des komplett Wahnsinnigen, des Irrationalen, Soziopathischen, da wurde nichts ausgelassen, einmal mit dem Pflug quer durchs Personal, Schreckensherrschaft, Willkür, menschliche Abgründe. Immerhin: Mir hat es geholfen, endlich den Absprung zu schaffen.

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kid37, Freitag, 18. Mai 2012, 01:59
Das sind doch später so die Kriegserinnerungen, wo man zugleich lacht und schaudert. Ich erinnere mich an einen Betriebsleiter in Dreiviertel-Lederhosen und mit Nazihaarschnitt, der jeden Tag mit dem Sportcabrio vorfuhr, die Leute zusammenschrie, keinen dämlichen Schnauzbart trug, aber irgendwie so wirkte, denn er war gefühlt nur 1,50 m groß. Und dann war ich mal in so einer Multimediaagentur, als das so losging mit New Economy und so. Kreative Leute, keine Frage, aber strukturell komplett überfordert, grüne Jungs in vieler Hinsicht eben, die auch so in "Visionen" lebten. Waren harte Zeiten, denn damals brauchte ich das Geld. Trotzdem habe ich beide Male fristlos gekündigt. Aber im Nachhinein war alles auch sehr skurril. Wissen Sie, was aus Ihren Kriegskameraden geworden ist?

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mark793, Freitag, 18. Mai 2012, 02:50
Der New-Economy-Irrsinn - aus meiner Sicht ein mindestens ebenso ergiebiger Quell schräger Erinnerungen wie die Wehrdienstzeit. Habe bei dem gecrashten Internetprojekt meines früheren Seniorpartners aus Pressebürozeiten auch noch rechtzeitig den Absprung gemacht, um die (aus meiner Sicht auch ohne Einblick in die Bücher völlig absehbare) Bauchlandung nicht mehr an Bord erleben zu müssen.

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monnemer, Freitag, 18. Mai 2012, 10:44
Der New-Economy-Trubel ist ja komplett an mir vorbeigegangen. Den Irrsinn der Arbeitswelt habe ich in der heilen Welt des inhabergeführten Mittelstandes erlebt. Da war auch der mit der Dreiviertellederhose. Wir nannten ihn Landvogt. Er wohnte mitsamt der Familie auf dem Betriebsgelände, und mehrmals am Tag kontrollierte er das Geschehen vom Balkon im 2. Stock mit dem Feldstecher. Man musste dabei unwillkürlich an Amon Göth in 'Schindlers Liste' denken. Entdeckte er ein Vergehen gegen die ehernen Prinzipien des inhabergeführten Mittelstandes, wurde man ins Wohnzimmer zitiert, wobei es während des anschliessenden Gebrülls passieren konnte, dass die Ehefrau unterbrach und fragte, ob man denn bitte schnell mal das Gurkenglas aufschrauben könne.
Innerfamiliäre Streitigkeiten wurden grundsätzlich vor Belegschaft und Kunden ausgetragen, dabei fiel die Seniorchefin, die Mitglied in der örtlichen Laienspielgruppe war, gerne theatralisch in Ohnmacht.

Ich habe fast 10 Lebensjahre dort verplempert, ein bisschen ärgert mich das heute noch. Treffe ich allerdings ehemalige Kollegen, schwärmen die immer, wie toll das damals war. Prima Sache, das mit der Verdrängung.

(Neulich hätte ich mir fast eine Vision gekauft)

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nnier, Freitag, 18. Mai 2012, 16:27
Das Grünsein und die strukturelle Überforderung sehe ich jedem nach. Menschliche Unanständigkeit nicht. Das geht ja los mit dem flapsigen Getue ("Wenn bei uns um 8:00 jemand ans Telefon geht, ist er noch da, nicht schon da"), hinter dem ein gemeinsam zu bewältigender Arbeitsbrocken stehen kann oder eben fieseste Druckausübung, so wie hinter dem flockigen "Ach, du willst mal eine Runde um den Block gehen?" zur Praktikantin, die sich mal traut, nicht gar so lange nach regulärem Arbeitsende ihre Sachen zusammenzupacken. Diese selbstverliebten "ehemaligen McCkinsey-Berater" habe ich alle kennengelernt, und es gehört etwas dazu, sich solchem Druck zu entziehen oder gar zu widersetzen. Es waren Zeiten, in denen sich die Deregulierer einen aufs Deregulieren runtergeholt haben, weil sie etwas davon hatten, dass man auf so etwas wie Arbeitszeiten, Pausen, Bezahlung usw. plötzlich nicht mehr achten musste. Wenn dazu noch eine entsprechende Persönlichkeit kommt, wird aus dem kleinen Würstchen eben schnell ein fieser Mobber. Ich bin fest überzeugt, dass es diese Menschen immer gab und geben wird, und dass es deshalb gut ist, wenn sie in ihrer Macht beschränkt bleiben.

Mich haben Geschichten wie diese in letzter Zeit wieder öfter daran erinnert, wie es zugehen kann, und dass das eben keine kurze Episode aus New-Economy-Zeiten ist, sondern ständig droht. Und gar zu schnell wird einem gesagt, dass finanzieller bzw. unternehmerischer Erfolg nun mal nicht ohne eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit zu erzielen sei. Was so sein mag - aber nicht jede charakterliche Fehlentwicklung rechtfertigen darf. Es lohnt sich z.B., das Gestammel eines komplett Enthemmten in dieser berühmten E-Mail mal am Stück zu lesen.

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jean stubenzweig, Samstag, 19. Mai 2012, 18:44
Andererseits frage ich mich seit langem so für mich hin: Weshalb läßt der Mensch das alles mit sich machen? Warum geht so gut wie niemand auf die Barrikaden?

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nnier, Samstag, 19. Mai 2012, 19:42
Einmal wurde ich mit zwei Kollegen herbeizitiert: Wir sollten für knapp 2.- DM pro Stunde jedes Wochenende einen Bereitschaftsdienst versehen, der bedeutet hätte, dass man immer das Diensthandy dabeihaben und in wenigen Minuten am Computer hätte sein müssen, wenn nicht näher definierte "dringende Sachen" aufgetreten wären. Das hätte mein verbleibendes Leben vollständig ruiniert. Ich habe mich vorsichtig dagegen ausgesprochen. Die Antwort war: "Entweder, ich finde da einen Kompromiss, oder ich muss sehen, dass ich mir einen anderen Job suche." (Der Kollege übrigens, der zuvor und unter uns ganz vehement dagegen gewesen war, schwieg. Er hatte gerade ein Haus gekauft.)

Ich war überhaupt nicht mutig, ich kotzte mich bei Freunden und zu Hause und bei vertrauenswürdigen Kollegen aus, zog mich ansonsten in meine Plexiglaskugel zurück, lief innerlich abgeschottet herum und rettete mir ein paar Prozent Selbstachtung, indem ich diesen Scheiß ja eigentlich völlig absurd fand. Manchmal traf ich morgens einen Kollegen im Aufzug, der sonst nie etwas sagte. "Wieder ein Tag im Knast", sprach er. "Genau", antwortete ich. Das war's.

Die Mechanismen sind so subtil wie banal: Ich war mir unsicher, ob ich diese Arbeit überhaupt beherrschte. Ständig befürchtete ich, beim nächsten oder übernächsten Projekt durchschaut zu werden. Man wird blöd angeschaut, weil man pünktlich Schluss macht. Man wird aber vor allem ständig in seiner Identität angegriffen, muss sich mit "Unternehmenszielen" oder einer "Unternehmensphilosophie" identifizieren, und es wird sehr genau registriert, ob man sich kleine innere Widerstandsinseln erhält. Angst ist das Stichwort, das wird in einem der oben verlinkten Artikel zu den Methoden bei Groupon und anderen Samwer-Unternehmungen ja auch recht deutlich. Es ist natürlich meine eigene Blödheit, dass ich nichts Vernünftiges gelernt habe, um damit dort zu arbeiten, wo ich etwas anzubieten hatte. Ich bin jedenfalls der Ansicht, dass diejenigen, die in gesicherter Position arbeiten, sich keinerlei Vorstellung von den Arbeitsplatz- und Existenzängsten der anderen machen.

"Ich verstehe nicht, warum die Leute da nicht revolutionieren", hatte der Kollege mit dem gekauften Haus kurz zuvor zu mir gesagt, es war in den Nachrichten um irgendein unterdrücktes Volk in Osteuropa gegangen.

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venice_wolf, Freitag, 18. Mai 2012, 16:51
Jedenfalls eine grauenhafte Geschichte, da sie nicht hartgesottene Kerle wie Sie und mich beängstigen kann, sondern eher junge unerfahrene Leute die dann glauben dass das vielleicht normal ist.
So, vor Feierabend lassen Sie mich noch schnell ein paar hundert FB Aktien kaufen, diese heile virtuelle Welt wo alles immer so lustig und verspielt ist und wo man mit "Like it" Tasten so viel Geld verdienen kann.

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nnier, Freitag, 18. Mai 2012, 23:49
Mir hat es gezeigt, wie schnell alles Mögliche normal werden kann.

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venice_wolf, Dienstag, 22. Mai 2012, 00:28
Sonntag dem Dalai Lama in K zugehoert, und wahrhaftig, er hat die einfachsten Sachen dieser Welt erzaehlt, mit Beispielen die auf Erfahrungen und Gespraeche z.B. mit einem indischen Taxi driver beruhen der zuviel Fernsieht und dabei das Hirn auschaltet.
Jedenfalls Anhaltspunkte, Denkanstoesse und eine Kraft gespuert die solche Ereignisse wie Eichen im Sturm zertruemmert haette. Obwohl man diese Argumente oft schon gelesen hat, ob beim Buddistenartikel fuer jedermann in der Zeitung im Doktorwarteraum oder in Opa's Brochuren (wahrhaftig war vom Inhalt alles schon mir bekannt) hat dieser kleine laechelnde Mann mit seiner Ruhe und auch Humor die Sachen klar und eindeutig mit Namen genannt.

So, ich schau kurz nach, wieviel ich mit den FB Aktien heute schon verdient habe.

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c17h19no3, Freitag, 18. Mai 2012, 22:06
herrlich. könnte ich auch was zu berichten....

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